Seppy's Blog

Geschichten von Christa Koinig - erscheinen jeden Sonntag im Kurier
16.04.2023

Die Würde der Schnecke

Ich kenne eine Figur, die hat die kuriosesten Einfälle. Neulich hat sie mich zum Spielen abgeholt und zwei Tennisschläger mitgebracht. Fein, dachte ich, und hab’ mich schon aufs Tennis- oder Federballspielen gefreut. Doch dann hab’ ich meinen Augen nicht getraut.

Die Figur hatte ein wunderschönes Schneckenhaus mitgebracht. Da wäre ja noch nichts dabei. Aber – und jetzt kommt’s – sie wollte  mit diesem schönen Schneckenhaus spielen, nämlich es mit den Rackets hin und her schubsen. Und – jetzt kommt’s noch dicker – in dem Schneckenhaus war eine lebendige Schnecke drin. Das Haus war zwar noch verschlossen, weil sie noch nicht aus ihrer Kältestarre aufgewacht war, doch bald würde sie schon auf Nahrungssuche gehen. Es war eine sehr alte Weinbergschnecke. Ich konnte das am Schneckenhaus erkennen, weil es schon viele Ringe hatte. Diese Schnecken können bis zu 30 Jahre alt werden.

Gerade als ich das schöne Haus bewundert hab’, hat sie mir der Typ aus der Hand gerissen und die Schnecke mit dem Tennisschläger durch die Luft katapultiert. Ich sollte sie auffangen, hab sie jedoch nicht erwischt, und sie ist in der Wiese gelandet. Zum Glück, denn wäre sie auf den Asphalt gefallen, wär’ sie vielleicht zerbrochen. Ich war nicht glücklich mit diesem Spiel und wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Da hat mir Omama aus der Patsche geholfen. Sie hatte uns beobachtet und sich lautstark eingemischt. “Das ist kein Tennisball!” hat sie gerufen, “es ist ein lebendiges Wesen und hat ein Recht auf Würde! Auch wenn es nur eine Schnecke ist.“

Euer Seppy

Text von Christa Koinig, erschienen im Kurier am 16.04.2023