Seppy's Blog

Geschichten von Christa Koinig - erscheinen jeden Sonntag im Kurier
11.04.2021

Der alte Kaktus

Unsere Omama kann mit Pflanzen sprechen. Das kann ich auch, aber ich versteh’ halt nicht was die Pflanzen antworten. Omama anscheinend schon, denn sie weiß, was eine Pflanze braucht, damit es ihr gut geht. Oft bekommt sie kranke Blumenstöcke oder solche, die nicht mehr blühen wollen und pflegt sie.

Sie sagt, eine Pflanze hat es nicht verdient, weggeworfen zu werden, nur weil sie keine Blüten mehr trägt. Man muss nur viel Geduld haben und sie mit viel Liebe und Hingabe betreuen, vor allem aber zuversichtlich sein. Und wenn dann eines Tages ein einst halb vertrockneter Blumenstock wieder vorsichtig zu blühen beginnt, ist sie sehr zufrieden und sagt „die Seele ernährt sich von dem, worüber sie sich freut“.

Seit vielen Jahren steht auch ein alter Kaktus in unserem Zimmer herum. Er ist unscheinbar, doch sobald ich in seine Nähe komm’ scheint es, als ob er mit seinen Stacheln nach mir zielen würde. Irgendwie mögen wir uns gegenseitig nicht. Omama aber sagt, sie hat den Kaktus vor langer Zeit von ihrer Oma bekommen und hält ihn in Ehren.

Gestern hat Omama gesagt, wir dürfen ausnahmsweise die ganze Nacht aufbleiben, sie hat eine Überraschung für uns. „Eine Pyjamaparty?“ hab’ ich gefragt. „Nein, was viel Besseres! Ihr werdet die Königin der Nacht sehen.“  Aso? Was macht denn die hier?

Wir warteten also gespannt. Es wurde Nacht und Omama hatte den alten Kaktus mitten auf den Tisch gestellt. Erst jetzt fiel mir auf, dass da eine lange, stachelig-wollige Knospe dran war.

Gegen Mitternacht öffnete sich dann fast wie in Zeitlupe eine große weiße Blüte, und sie duftete wunderbar. Omama hat uns erklärt, dass die ‚Königin der Nacht’ so heißt, weil sie nur in einer einzigen Nacht blüht.

Was ich daraus gelernt hab’? Auch kratzbürstige Wesen tragen was Wunderschönes in sich, wenn’s auch manchmal nur für kurze Zeit ist.

Euer Seppy

Text von Christa Koinig, erschienen im Kurier am 11.04.2021