Seppy's Blog

Geschichten von Christa Koinig - erscheinen jeden Sonntag im Kurier
30.05.2021

Mai- und Junikäfer

An einem der letzten Mai-Tage hab ich einen Maikäfer getroffen.
Er saß auf einem Stein und hatte einen eigenartigen Ausdruck in seinem Maikäfergesicht, seine Augen waren irgendwie verdreht. Er hat mich auch nicht gleich bemerkt.

Erst als ich an seine großen Fühler angestoßen bin, hat er gerufen „Amphi, bist du das?“, und ich „Hä? Ich bin der Seppy“. Da hat er mich dann doch mit seinen schielenden Augen angesehen und ich hab’s gemerkt, dass er enttäuscht war.

Natürlich hab’ ich ihn gefragt, wer Amphi ist und was er in den allerletzten Maitagen hier noch zu suchen hat. Dann hat er mir erzählt, dass Amphi ein hübsches Junikäfermädchen ist, von dem er sein ganzes Leben lang geträumt hat, schon als kleines Ei in der Erde, dann als Engerling, und seit ein paar Wochen als dicker Maikäfer. Jetzt war mir auch klar, warum er schielte: er war verliebt.

Wie sollte ich ihm das jetzt erklären, dass Mai- und Junikäfer irgendwie nicht zusammen passen? Er hat mir ja leid getan, denn seine Zeit würde bald vorbei sein, und die Junikäfer schlüpfen gerade erst aus ihren Larven.

Einem verliebten Maikäfer die verdrehten Augen zu öffnen und ihm die Wahrheit zu sagen, ist nicht grade leicht. So hab ich’s also mit was anderem versucht.

Ich hab ihm das Märchen von der Sonne und vom Mond erzählt. Die Sonne hatte sich in den Mond verliebt und wollte ihn heiraten. Der Mond, ein schlaues Kerlchen, wollte die Sonne aber nicht. Er sagte, ich werde dich heiraten, wenn du mich einholst. Da lief ihm die Sonne erfreut und voller Hoffnung hinterher. Aber als der Mond im Osten ankam, war die Sonne noch im Westen, und als der Mond dort ankam, war die Sonne wiederum ganz weit weg im Osten. Es gab natürlich keine Sonne-Mond-Hochzeit. Und genau deswegen kann es auch niemals eine Mai-Juni-Käfer-Hochzeit geben.  

Der Maikäfer hörte aufmerksam zu, dann aber sagte er brummig:

„Man wird doch wohl noch träumen dürfen.“

Euer Seppy

Text von Christa Koinig, erschienen im Kurier am 30.05.2021